Ist es sinnvoll oder gar schön, wenn die Wiesnbesucher am Nachmittag auf die Bänke gespielt werden?
Früher eher Begleiterscheinung, wird seit den 80ern alljährlich über sogenannte Wiesn-Hits diskutiert, die meistens dann doch gar keine sind. Klar ist allerdings dennoch, dass durch die Verbesserung der Beschallungsanlagen in den Wiesnzelten während der letzten gut 30 Jahre sich der Stellenwert der Bierzeltmusik deutlich gesteigert hat. Es ist offensichtlich, dass es im Wesentlichen die Festkapelle ist, die die Stimmung in einem Zelt regelt.
Und deshalb stelle ich mir die Frage, ob die Musik nicht in den allermeisten Zelten nicht erstaunlich schlecht oder zumindest nicht sonderlich intelligent ist. Diese Frage bezieht sich jedoch nicht im Geringsten auf die Qualität der Musiker, sondern vielmehr auf die Auswahl des Repertoires zur rechten Zeit.
Nun ist es schon seit einigen Jahren kein Ausdruck überbordender Freude mehr, sondern gleicht viel mehr einem Naturgesetz, dass im Laufe des Abends alle Zeltbesucher auf den freundlicherweise vom Wirt bereitgestellten Sitzmöbeln steht. In diesem wahrscheinlich zu langen Satz steckt allerdings ein Euphemismus: Abend.
Viele Wirte weisen nämlich ihre Kapellen an, die Besucher bereits früher auf die Bänke zu spielen. Das führt dazu, dass die Abendreservierer in sehr vielen Zelten keine einzige Zeile von einem bayerisch- böhmischen Notenblatt vorgespielt bekommen. Und hierbei sehe ich abseits des hinterfragenswerten Mangels jeglichen kulturellen Anspruchs zwei Probleme:
Das erste ist auch kommerzieller Natur, weshalb es umso erstaunlicher ist, dass gerade die Wirte dafür verantwortlich sind: Wer hinter und vielleicht auch noch neben sich einen Tischnachbarn hat, der sich bereits zur Essenszeit an der Bierbank vergeht, wird sich zweimal überlegen, ob er wirklich im Zelt isst. Nicht jeder schätzt es nämlich, in vielen Mittelschiffen ab dem späten Nachmittag sein Hendl gegen fremdes Schuhwerk verteidigen zu müssen.
Christian Schottenhamel hat sich vor einigen Jahren sogar beklagt, dass in seiner gleichnamigen Festhalle zu wenig gegessen wird. Dass es sich dabei um ein Zelt, das mit deiner Top-40- und Ballermann-Musik in erster Linie Münchner Gymnasiasten anspricht, denen das Wesen einer Bierbank als Sitzmöbel augenscheinlich gar nicht bekannt ist, darf erstaunen. Wieso also meinen die Wirte also, es sei im Sinne ihrer Kasse und des Gastes, ebendiesen das Essen durch aufheizende Musik zu verleiden?
Eng damit zusammen hängt das zweite Problem. Es handelt sich hierbei allerdings um eine These, die nur die Zelte mit nicht besonders jungem Publikum betrifft, das eh weder Essen noch Sitzen schätzt.
Diese These lautet folgendermaßen: Wenn eine Kapelle gegen den Willen des ratschenden, essenden Gastes Stimmungsmusik spielt, ignoriert er diese und widmet seine Aufmerksamkeit stattdessen seiner Nahrungszufuhr oder dem Tischgespräch. In dieser Phase verspielt die Kapelle ihre zur Steuerung des Publikums notwendige Autorität, was dazu führt, dass ihre Anheizversuche auch zur rechten Zeit noch übergangen werden. Dadurch entsteht der bemerkenswerte Effekt, dass es sogar länger dauert, Stimmung in ein Zelt zu bekommen, wenn man es zu früh darauf anlegt.
Neben diesen beiden eher handfesten Nachteilen zu forcierter Stimmungsbeschallung, kommt ein dritter, weicherer hinzu, der mich persönlich jedoch am meisten umtreibt: Die Wiesn wird, egal ob von Einheimischen oder Auswärtigen als Traditionsveranstaltung wahrgenommen. Auch die Zeltwirte, selbst die, die Partybands engagieren, die am Nachmittag volkstümlichen Schlager servieren oder deren Musikprogramm von Top-40- oder Ballermanntönen dominiert wird, bewerben ihre Festhallen als Traditionsbetriebe.
Es scheint somit unbestritten, dass die öffentliche Wahrnehmung des Oktoberfestes als althergebracht ganz wesentlich für dessen Gelingen ist. Wenn allerdings die Wirte der großen, wesensprägenden Zelte ihre vorgeblichen Traditionsbetriebe weiter in Schlagerdiscos mit Bühnennebel, aufwendigen Lichtanlagen und arg zeitgenössischem, austauschbarem Musikrepertpoire verwandeln, wird dieser momentan noch kaum hinterfragte Traditionsnimbus irgendwann verloren gehen.
Nur in kariertem Hemd an einer Bierbank sitzend ein halbes Hendl zu verzehren, um kurz darauf zu Micky Krause auf der Bank tanzend Bier zu verschütten, hat mit Kultur noch relativ wenig zu tun. Das bekommt man auch am „Oktoberfest“ in Oberhausen oder Luzern hin.
Wenn der seit zehn Jahren im deutschsprachigen Raum grassierende Trachten-Kostümparty-Wahn einmal sein Ende finden wird, hat die Wiesn dann ein Problem. Um dies zu verhindern, muss sichergestellt werden, dass sie sich nicht in den Jahrzehnten zuvor zu einer Oktoberfest-Party am Originalschauplatz degradiert, deren Unterschied von ihren Schwestern aus der Retorte nur noch ein architektonischer ist.